Fitundgesund: Viele hilfs- und pflegebedürftige Menschen werden zuhause betreut und gepflegt. Wer sind pflegende Angehörige?
Frau Marchner: Pflegende Angehörige sind auch heute noch zum überwiegenden Teil Frauen, und das zu mehr als zwei Dritteln. Die meisten pflegenden Angehörigen sind zwischen 51 und 60 Jahren alt und pflegen entweder ihr Kind, ihren Partner bzw. ihre Partnerin und auch ihre Eltern bzw. Schwiegereltern. Viele machen es sich zur Lebensaufgabe, zum Beispiel den Partner bis zum Lebensende zu pflegen, weil sie es als ihre Pflicht ansehen. Die gesellschaftliche Ansicht, dass jeder pflegen kann – oder soll –, unterstützt diese Einstellung. Obwohl sie diese Aufgabe nicht immer freiwillig übernehmen, weil sie sich dieser hohen Verantwortung bewusst sind. Dennoch übernehmen mehr als zwei Drittel der An- und Zugehörigen die Pflege und Betreuung.
Fitundgesund: Was bedeutet es für eine Familie, wenn Angehörige gepflegt werden müssen? Ist es eine schwere Belastung für die Älteren? Nehmen sie die Hilfe an? Wie kann Pflege zuhause gelingen und welche Voraussetzungen müssen erfüllt sein?
Frau Marchner: Das kommt darauf an, wie intensiv ein Mensch gepflegt werden muss – jemandem beispielsweise im Haushalt stundenweise unter die Arme zu greifen ist natürlich viel weniger belastend, als eine Rund-um-die-Uhr-Betreuung. Diese fordert, unabhängig vom Alter, früher oder später ihren Tribut, physisch wie psychisch. Mit zunehmendem Alter wird es generell schwieriger für pflegende An- und Zugehörige, da sich früher oder später auch bei ihnen gesundheitliche Beeinträchtigungen einstellen. Sie stoßen dann an ihre Grenzen und sind dankbar über Hilfe von außen. Abhängig vom Betreuungsaufwand kann das eine stundenweise Unterstützung sein, das kann aber natürlich auch auf eine 24-Stunden-Betreuung hinauslaufen.
Damit Pflege und Betreuung daheim gelingt, müssen die individuellen Bedürfnisse der Menschen, die an der Betreuung beteiligt sind, und deren aktuelle Lebenssituation berücksichtigt und korrekt eingeschätzt werden. Ziel einer 24-Stunden-Betreuung muss es sein, das Familiensystem zu stabilisieren, zu entlasten und eine optimale Betreuungssituation zu schaffen. Dafür braucht es eine professionelle Einschätzung der Gesamtsituation, die Erhebung der Anamnese des/der zu Betreuenden, die Einschätzung eines realistischen Betreuungsaufwands, unter Einbezug der nächsten An- und Zugehörigen. Diese Analyse ist lt. dem Gesundheits- und Krankenpflegegesetz (GuKG) eine der Hauptaufgaben einer Dipl. Gesundheits- und Krankenpflegeperson. Aufgrund dieser Analyse werden PersonenbetreuerInnen ausgewählt und vermittelt.
Fitundgesund: Welche Vorteile einer häuslichen Pflege können genannt werden?
Frau Marchner: Grundsätzlich möchte jeder und jede gerne zuhause in der gewohnten Umgebung in der Nähe von Familie, Freunden, Nachbarn und Bekannten bleiben. Somit können soziale Kontakte weiter gepflegt und das Leben weitgehendst selbstbestimmt gestaltet werden. Das ist auch in diesem Lebensabschnitt unglaublich wertvoll und dient der geistigen und körperlichen Gesundheit und steigert die Lebensqualität.
Fitundgesund: Welche Nachteile zählen dazu? Ist Einsamkeit ein großes Thema? Mit welchen körperlichen und psychischen Belastungen können Pflegende konfrontiert werden?
Frau Marchner: Der größte Nachteil entsteht durch unqualifizierte Betreuung oder häufige Wechsel der Betreuungspersonen. Daraus ergibt sich nämlich unweigerlich eine zusätzliche Belastung für die Betroffenen und deren Familien, die ohnehin schon mit einer schwierigen Situation zurechtkommen müssen. In der Praxis kommt das leider immer noch sehr häufig vor.
Einsamkeit ist dann ein Thema, wenn die Betroffenen über keine sozialen Kontakte verfügen und/oder alleine leben. Das kann eine Betreuungsperson bis zu einem gewissen Grad abfedern, indem sie den Klienten Gesellschaft leistet, Strukturen im Tagesablauf anbietet und mit ihnen etwas unternimmt, z. B. Spaziergänge, Kaffeehausbesuch oder ähnliches.
Fitundgesund: Welche Möglichkeiten und Hilfe gibt es für Pflegende, die selbst körperlich eingeschränkt sind und nicht alle Aufgaben für die Pflege von Angehörigen erfüllen können?
Frau Marchner: Am Anfang steht immer ein ausführliches Beratungsgespräch, weiters gibt es die Möglichkeit der stundenweisen Betreuung, spezielle fachliche Pflegeunterstützung, bis hin zur 24-Stunden-Betreuung. Wie sie die Problemlösung angehen und welche Unterstützungsmöglichkeiten es gibt, ist oftmals schwer für An- und Zugehörige zu überblicken und zu erfassen.
Fitundgesund: Welche Hilfe und Unterstützung können Pflegende von außen in Anspruch nehmen? Wer ist der richtige Ansprechpartner, wenn es beispielsweise um finanzielle oder rechtliche Fragen geht? Wie kommen die meisten zu einer Pflegehilfe?
Frau Marchner: Hier trennt sich in der Praxis die Spreu vom Weizen. Bei hochwertigen Pflege-Vermittlern kümmert sich eine DGKP im Rahmen der Anamnese und des Erstgespräches darum. Sie erkennt, wenn die Pflegeeinstufung zu niedrig ist und unterstützt gegebenenfalls bei einem diesbezüglichen Antrag und gibt auch Informationen zu etwaiger Förderung. Viele Angehörige sind mit dem Bürokratie-Aufwand überfordert und wissen oft auch nicht, wo sie wie ansuchen – da ist es sehr unterstützend, jemanden zur Seite zu haben, der sich in diesem Bürokratie-Dschungel versiert bewegt. Für die Betroffenen ist das auch insofern hilfreich, als sie sich ohnehin schon in einer Ausnahmesituation befinden, die sie überfordert. Sie sind dann erfahrungsgemäß sehr froh, wenn ihnen jemand bei der Erledigung bürokratischer Abläufe unter die Arme greift.
Fitundgesund: Wie und wann kann man Pflegegeld beantragen?
Frau Marchner: Zuständig sind in der Regel die Sozialversicherungsträger, PVA oder SVA. Der Antrag erfolgt über ein Formular. Darin muss angegeben werden, welche Tätigkeiten die Betroffenen nicht mehr selbst durchführen können – das können Aufgaben im Haushalt sein, beispielsweise Kochen oder Putzen. Auch bei chronischen Krankheiten, die zu Beeinträchtigungen führen oder nach längeren Spitalsaufenthalten, kann Pflegegeld beantragt werden. Die Bewilligung ist abhängig vom monatlichen Betreuungs- und Pflegebedarf. Für die Pflegestufe 1 sind das derzeit 65 Stunden. Eine Grundvoraussetzung ist, dass die Pflegebedürftigkeit mindestens über sechs Monate besteht. Dies kann durchaus nach einem längeren Krankenhausaufenthalt der Fall sein. Viele Menschen wissen aber nicht, dass sie auch dann Anspruch auf Pflegegeld haben. Deshalb ist es so wichtig, Fachkräfte einzubeziehen. Wir können die Menschen im Vorfeld beraten und verhindern, dass sie in der falschen Pflegestufe landen oder womöglich gar keine Unterstützung erhalten.
Fitundgesund: Was fließt in den Aufgabenbereich einer professionellen Pflegekraft hinein?
Frau Marchner: Der Aufgabenbereich einer Dipl. Gesundheits- und Krankenpflegeperson (DGKP) ist ganz klar im Gesundheits- und Krankenpflegegesetz (GuKG) geregelt. Meist ist dies gar nicht bekannt und das Tätigkeitsfeld der DGKP wird reduziert auf „Patienten waschen und Medikamente austeilen“. Wobei das Tätigkeitsfeld viel breiter definiert und in drei Bereiche unterteilt ist.
In den eigenverantwortlichen Tätigkeitsbereich fallen unter anderem: die Erhebung der Pflegeanamnese, wie bereits erwähnt, und alle daraus resultierenden pflegerischen Maßnahmen, einschließlich deren Durchführung, bis hin zur Evaluierung dieser, sowie die Information und Beratung über Vorbeugung und Anwendung von gesundheitsfördernden Maßnahmen und psychosozialer Betreuung. Ebenso gehört die Organisation der Pflege, die Anleitung und Überwachung von Hilfspersonal, mit Unterweisung und begleitender Kontrolle derer dazu. Ein wichtiger Aspekt in der Betreuung durch selbständige PersonenbetreuerInnen, wie in der 24-Stunden-Betreuung.
Der zweite Hauptaufgabenbereich ist der sog. Mitverantwortliche Tätigkeitsbereich: Darin sind diagnostische und therapeutische Tätigkeiten nach ärztlicher Anordnung geregelt, z. B. Verabreichung von Medikamenten (Tabletten, Infusionen, Spritzen), ebenso das Anlegen von Verbänden, Bandagen und die Blutabnahme.
Der dritte Bereich ist der interdisziplinäre Tätigkeitsbereich: Hierbei geht es vor allem um die Zusammenarbeit verschiedener Fachdisziplinen, um die Weiterbetreuung von Menschen beim Wechsel von Einrichtungen zu unterstützen und zu gewährleisten, z. B. nach einem Krankenhausaufenthalt auch in der Weiterbetreuung in der häuslichen Pflege, bekannt als Entlassungsmanagement, sowie die Erhaltung und Förderung durch Beratung und Unterstützung bei jeglichen Erkrankungen.
Ein wichtiger Aspekt ist noch das Wissensmanagement im Gesetz, das viele Entwicklungsmöglichkeiten bietet, z. B. Lehr- und Führungsaufgaben zu übernehmen, in speziellen Bereichen ausgebildet zu werden, z. B. Intensiv oder sich auch in bestimmten Pflegethemen Zusatzqualifikationen anzueignen, z. B. Demenz, Wundmanagement.
Fitundgesund: Wie sind Sie zur Pflege gekommen? Was macht den Beruf für Sie aus?
Frau Marchner: Für mich war sehr früh klar, dass ich einen sozialen Beruf ergreifen möchte. Wichtig war und ist mir eine Tätigkeit, in der ich direkt mit Menschen in Kontakt bin, vor allem für jene mich einsetzen kann, die in einer besonderen Lebenssituation stehen, wo ich unterstützend gestalten kann, mit meiner Fachlichkeit und meiner Erfahrung von mittlerweile über dreißig Jahren. Ich schätze an meinem Beruf die Vielfalt an Tätigkeiten, Eigenverantwortung, die Abwechslung und die Unterschiedlichkeit der Menschen, denen ich in meinem Arbeitsalltag begegne, seien es PatientInnen, KollegInnen oder MitarbeiterInnen. Meinen Beitrag leisten zu können, bei individueller Entwicklung, Beziehungsgestaltung und die Lebensqualität von Bedürftigen und ihren An- und Zugehörigen zu verbessern, ist meine Zielsetzung.
Fitundgesund: Nimmt man diesen Job mit nachhause?
Frau Marchner: Jeden Job nimmt man in gewisser Weise mit nach Hause, und natürlich kommt es immer wieder vor, dass man sich mit besonders tragischen oder ungewöhnlichen Fälle auch nach Feierabend noch beschäftigt, weil sie einen einfach nicht loslassen. Da gilt es dann, Methoden zu finden, die einem beim Abschalten helfen, für mich ist das ein Spaziergang in der Natur oder auch Yoga.
Fitundgesund: Erhält der Pflegeberuf Ihrer Meinung nach genug Wertschätzung?
Frau Marchner: Ich denke, dass die oftmals fehlende Wertschätzung darin liegt, dass sich die Gesellschaft nicht ausreichend mit dem Thema Pflege und Betreuung, dem Altwerden und -sein, Krankheit, Hilfsbedürftigkeit und dem Verlust von Fähigkeiten auseinandersetzt.
Somit wissen die Wenigsten, hauptsächlich dann, wenn es sie nicht betrifft, was es heißt, zu pflegen. So nah mit einem, auch fremden, Menschen zu leben, in seine Privat- und Intimsphäre einzugreifen. Eine hohe Verantwortung für den zu pflegenden und betreuenden Menschen zu übernehmen, weil sich eben Pflege und Betreuung nicht nur auf manuelle Handlungen wie „waschen und anziehen“ beschränkt, sondern es um viel mehr geht, um Beziehungsaufbau, Lebensgestaltung, Empathie und Vertrauen. Aber auch im Wesentlichen um professionelles Handeln, um Schaden abzuwenden, rechtzeitig Risiken zu erkennen und fachlich zu handeln.
Pflege ist so umfangreich, es ist eine Profession.
Besonders der Pflege im häuslichen Umfeld fehlt die Wertschätzung, weil hier meist keine großartige medizinische Betreuung wie in einem Krankenhaus notwendig ist, nach dem Motto: „Da wird ja nur gepflegt“ und das kann jeder! Damit werden diplomierte Gesundheits- und Krankenpflegepersonen und selbstständige PersonenbetreuerInnen indirekt abgewertet. Denn wenn das ohnehin jeder kann, dann braucht man ja eigentlich keine Profis, die obendrein für ihre Arbeit bezahlt werden müssen. Die Abwertung der Profis wirkt sich auf die Attraktivität des Berufs aus und mündet im Pflegekräftemangel. Aus meiner Sicht würde mehr Wertschätzung enorm dazu beitragen, diesen Teufelskreis zu durchbrechen.
Dennoch möchte ich abschließend meinen Respekt und Wertschätzung allen pflegenden An- und Zugehörigen aussprechen. Sie leisten Unglaubliches, meist Tag und Nacht, das ganze Jahr hindurch, vergessen auf sich und ihre eigene Gesundheit. Umso wichtiger ist es Rahmenbedingungen zu schaffen, um ihnen größtmögliche Entlastung zu kommen zu lassen. Ebenso leisten die vielen selbständigen PersonenbetreuerInnen einen wesentlichen und guten Beitrag im Rahmen der 24-Stunden-Betreuung, auch sie benötigen bestmögliche Unterstützung.
Danke für das Gespräch!
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